Gewinnertext 5 - Schulen

 

 

 

 

 

 

"Sie stockte und senkte ihren Kopf. Der junge Hirsch kam näher und tröstete sie. So standen sie da eine Weile lang. Sie dachten beide daran, dass der Vater damals, als die Menschen noch so anders waren, gehen musste. Er starb. Viele von ihnen starben."

Die fabelhafte Welt nach Corona

von: Henri Büttgens, 7. Klasse

 

 

 

Es war einmal ein Wald. Er sah saftig und grün aus und stand in voller Blüte. Die Tiere, die in ihm lebten, hatten viel Platz und Ruhe. Sie wurden kaum gestört, weil alles im Einklang war. Selbst wenn Menschen durch den Wald spazieren gingen, hatten sie keine Angst. Denn die Menschen waren ruhiger geworden. Sie blieben auf ihren Wegen und behandelten den Wald mit Respekt. Sie ließen die Natur wieder Natur sein und hinterließen kein Müll mehr. Nirgendwo war mehr Plastik oder Pappe oder sonstiges, was den Tieren schaden konnte. Es herrschte Frieden. Jeder Tag schien, als wäre es einer eines anderen Lebens.

 

 

 

„Was war nur geschehen? Vor noch nicht allzu langer Zeit war doch alles noch anders gewesen.“

 

Das fragte sich der junge Hirsch, der vor einem Jahr noch ein kleines Reh gewesen war. Er liebte den Frieden seines Waldes, seines Zuhauses. Aber es kam ihm dennoch eigenartig vor.

 

„Wie konnte es sein, dass die Menschen so anders geworden waren?“

 

Es ließ ihn einfach nicht in Ruhe. Also ging er zu seiner Mama, die gerade sorglos und friedlich auf einer Lichtung des Waldes in der Sonne stand und fraß.

 

 

 

„Mama, warum ist es so friedlich? Warum sind die Menschen so ruhig geworden? Ich kann es irgendwie nicht fassen. Es ist doch noch gar nicht so lange her, als alles trauriger war, als wir mehr zu kämpfen hatten, als die Menschen unsere Feinde waren.“

 

Seine Mutter schaute ihn an und blickte sanft, aber tief in seine Augen. Sie sagte: „Ja, Du hast recht. Ich kann Deine Gedanken gut verstehen. Die Menschen waren einst egoistisch und meinten, sie könnten einfach so Gott spielen und alles würde ihnen gehören. Sie dachten, sie würden über alles herrschen und hätten das Recht auf alles. So ist der Mensch. Er glaubt, er würde über allem stehen, mehr Wert als alles andere haben. Denn er weiß viel, er hat viel erfunden und ist fähig zu begreifen. Mehr und anders als wir Tiere hier im Wald. Aber der Mensch hat vergessen, dass er nicht perfekt sein kann, dass auch er seine Grenzen hat. Wenn er zu viele Möglichkeiten hat, dann sieht er oft nicht mehr das Wesentliche. Dabei vergisst er, dass er im Prinzip auch nur ein Tier ist. So kam es, dass sie zu viel auf einmal wollten und überschätzten sich. Sie verloren den Blick auf das Wichtige und vergaßen, im Einklang mit der Natur zu sein. Aber dann kam eine Zeit, da merkte der Mensch, dass seine Sicherheit nicht von Dauer war. Eine Krankheit suchte die ganze Welt heim. Zuerst nahm der Mensch sie nicht ernst. Denn er dachte, dass er alles könnte. Doch die Krankheit verbreitete sich immer schneller und viele Menschen starben. Sie mussten einsehen, dass sie mehr aufeinander achten, dass sie die Augen wieder öffnen müssten für das Wichtige im Leben. Also blieben sie in ihrem Zuhause, arbeiteten von zuhause, fuhren kaum noch mit ihren Autos und belasteten damit viel weniger die Umwelt. Sie verbrachten mehr Zeit mit ihren Familien, hatten Zeit für Gespräche und zeigten ihren engsten Mitmenschen ihre Liebe. Sie gingen wieder hinaus in die Natur, schauten genau hin und beobachteten, wie die Natur sich erholte und mit dem Frühling alles wieder neu begann. Sie schätzten alles viel mehr, sie erfreuten sich, sie kamen zur Ruhe. Das hat viele Menschen im Herzen geheilt. Sie merkten, dass sie sich wieder mehr Zeit nehmen müssten für andere, für sich und für die Natur. Also behandelten sie die Wälder auch wieder besser und machten uns Tieren so das Leben leichter. Hätten sie das früher begriffen, hätte Dein Vater vielleicht ...“

 

 

 

Sie stockte und senkte ihren Kopf. Der junge Hirsch kam näher und tröstete sie. So standen sie da eine Weile lang. Sie dachten beide daran, dass der Vater damals, als die Menschen noch so anders waren, gehen musste. Er starb. Viele von ihnen starben. Weil sie nicht wussten, dass man den Plastikmüll der Menschen nicht verschlucken durfte.

 

 

 

So war es damals. Aber heute war es anders. Es passierte nur noch selten, dass einer von ihnen auf diese Weise starb. Die Menschen produzierten weniger, sie konsumierten weniger, sie machten weniger Dreck, es gab weniger Müll. Sie kümmerten sich mehr um die Natur und die Umwelt und sorgten dafür, dass diese nicht mehr so viel belastet werden würde. Die Luft wurde reiner, das Wasser klarer, die Pflanzen und Bäume wuchsen besser und alles kam wieder mehr ins Gleichgewicht. Nicht nur hier, sondern in vielen Ländern auf der ganzen Welt.

 

 

 

Nun ist es ja eigentlich so, dass Hirsche Tiere sind und nicht wissen, was wir Menschen wissen. Sie rechnen nicht, sie kennen keine Statistiken. Sie wissen nicht, wo China ist oder Venedig und können auch nichts über CO2-Werte oder die Erderwärmung und den Klimawandel sagen. Aber sie wissen und spüren Dinge, die den Menschen lange fremd geworden waren und die sie wieder neu lernen mussten. Damals, während der Coronakrise im Jahr 2020. Als die Schulen, Geschäfte und Restaurants schlossen, die Eltern zu Hause arbeiten und die Kinder Zuhause lernen mussten. Als alles nicht mehr als selbstverständlich galt. Als der Abstand unter den Menschen zu mehr Zusammenhalt führte. Als alle begannen, im Hier und Jetzt zu leben, weil plötzlich alles andere unwichtig erschien. Und nur ein Jahr später hatte sich so vieles getan. So viel dass es auch die Tiere spürten und ein Leben mit weniger Angst und mehr Ruhe führten. Das war etwas Gutes, auch wenn es aus etwas Schlechtem entsprungen war und viele Menschen gestorben waren.

 

 

 

Etwas Gutes, was sich immer weiter entwickelt hatte. Bis der Hirsch 20 Jahre alt war, seine Mama schon lange nicht mehr lebte und er seinen Enkeln von der Zeit damals erzählte, als die Menschheit sich durch ein Virus veränderte und gesund wurde. Gesund durch eine Krise. Menschlicher durch eine Krise. Lebendiger durch eine Krise. Respektvoller durch eine Krise. Liebevoller durch eine Krise. Ja, das war wirklich etwas Gutes ...