Gewinnertext 4 - Schulen

 

 

"... Zum ersten Mal seit Monaten sah er sich den Sonnenuntergang mit seiner Schwester an. Laura umarmte ihn. Sie war zu einem Schluss gekommen. 'Heimat - ist Liebe!', sagte sie ..."

Heimat

von: Mia Litten, 6. Klasse

 

Die Abendsonne ging über dem weiten dunkelgrünen Feld unter und tauchte die Wolken in ein leuchtendes Violett. Wenn man genau hinsah, erkannte man, dass dieses Licht einen leicht rötlichen Stich aufwies. Die rotierenden Windräder mit ihren scharf umrandeten, schwarzen Silhouetten, mit denen sie sich stark von den Strahlen der sinkenden Sonne abhoben, gaben dem Bild den letzten Schliff. Ebenso der Wald, dessen dunkle Spitzen in das leuchtende, rote Gold der Sonne einzustechen schienen. Noch war die Luft warm, aber der Boden kühlte schon langsam ab und dort, wo die verästelten Schatten der Bäume schon längere Zeit auf der Erde ruhten, waren die Gänseblümchen bereits geschlossen. Die Straße war nun dunkelblau getüncht, sie hatte das sanfte Blaugrau, welches sie am Tag annahm, verloren. Birkensprossen – kleine, zarte Blättchen - bahnten sich einen Weg nach außen. Sie sahen aus, als könnte ein leichter Windstoß sie davontragen wie Schnee.  Die weißen Stämme leuchteten im Abendlicht so violett wie die Wolken, die schwarzen Flecken bildeten einen starken Kontrast. Diese Komposition aus Farben war wie ein dunkles Holzblasinstrument, wie ein warmer, dunkler Ton.

 

Dies war Lauras Heimat.
„Heimat",  überlegte sie, „Heimat, was ist das eigentlich?“

 

Seit einem Jahr dachte sie darüber nach. Seit einer Pandemie, die mehrere Monate angedauert hatte, Angst, Schrecken und Tod verbreitet hatte. Die Regierung hatte die Wirtschaft hinuntergefahren, die meisten Menschen waren arm und arbeitslos geworden. Lauras älterer Bruder Milan hatte von dem Lockdown nichts gehalten, er hatte den Kopf geschüttelt, kurz erklärt, was die Politiker falsch machten, gegähnt und war gleich darauf eingeschlafen. Milan war immer so, seit er aus Spanien zurückgekommen war. Sein Alltag bestand aus Essen, Nachrichten gucken, Schlafen und Schreiben. Lauras Eltern hatten zwar durch weiterführende Erträge den Hof, auf dem schon Lauras Urgroßmutter gelebt hatte, behalten können, doch sie hatten das Gefühl, dass ihnen ihr Sohn entgleiten würde. Seit er bei einem spanischen Mönch Schreiben und Meditieren gelernt hatte, wurde er zusehends schweigsamer. Im Moment besserte es sich etwas.

 

Laura hatte den Verdacht, dass er damals mit einem Mädchen aus einem seiner Kurse auf der Universität zusammen gewesen war, die sehr früh mit Corona infiziert gewesen und gestorben war.  Das hätte bedeutet, dass er Liebeskummer gehabt hätte. Dann war auch noch sein Hund – Muckel – an Altersschwäche gestorben. Milan hatte eine harte Zeit gehabt, doch er zählte jetzt einundzwanzig Jahre und das Studium, das er abgebrochen hatte, lag samt Universität jetzt hinter ihm und er konzentrierte sich auf seinen Beruf: Er war Journalist und Schriftsteller und der beste Bruder, den Laura sich nur wünschen konnte. Er war fürsorglich, offen, half ihr bei allen möglichen Dingen, wie Schule, Fahrradfahren oder Zeichnen und wenn sie irgendeine Frage hatte, dann gab er ihr immer eine ehrliche Antwort, es sei denn, er konnte oder wollte nicht antworten.

 

Milans Alltag mochte eintönig klingen, doch er war nicht der Einzige: überall waren Menschen gebildeter, kreativer und genügsamer geworden. Durch die Pandemie schrieben viel mehr Leute: Schriftsteller, Dichter, Poet und Büchersammler waren nun die am meisten gewählten Berufe. Der seit der Renaissance erloschene und nun neu entfachte Wissensdurst der Menschen führte sogar so weit, dass es Hobby-Professoren zuhauf und nicht selten Straßenkehrer mit Doktortitel gab. Durch die Genügsamkeit der Leute gingen Fast-Food-Restaurants, Imbissbuden und diverse Süßigkeitenläden pleite. Im Gegensatz dazu wurden Büchereien riesige Spenden zuteil, Zeitungen wurden doppelt so dick und die Buchverlage, Lektoren, Bücherdruckereien und -läden umso reicher. Auch der Inhalt der Bücher besserte sich zusehends. Wissenschaftler waren gefragter und gleichzeitig war der Beruf populärer denn je. Politiker redeten und taten Dinge konsequenter und besser, als man sich letztes Jahr nur ausmalen konnte und Fabriken gingen genauso drastisch ein, wie handgemachte Produkte an Wert stiegen. Zwar benötigte man nun mehr Holz für die Bücher, doch Bäume waren nun das wichtigste Element für die Menschen und Baumgärten auf Häuserdächern konnte man oft beobachten. Die Schere zwischen Armen und Reichen war auch verkleinert worden und ehemalige Reiche wurden nur reicher, wenn sie Wissenschaftler waren. Diktaturen wackelten und wankten — auf einmal fingen die Leute an zu protestieren. Und da Waffen nicht mehr hergestellt wurden, arbeiteten sie mit Erfolgen. Und die Meere waren wieder klar und voll mit Fischen, auch wenn der alte Müll geblieben war! Das Klima erholte sich ein bisschen und Entwicklungsländer bekamen so viel Geld und Aufmerksamkeit wie noch nie! Nur eines war leider schlimmer geworden: die Ausrottung vieler seltener Tierarten. Da nun so viele von einem unglaublichen Wissensdurst vorangetrieben wurden, waren zahlreiche Tierarten kurz vor dem Aussterben: Haie, Eisbären, Elefanten, Nashörner und so viele seltene Tiere wurden beobachtet und verfolgt und Nester, Schlafplätze, Höhlen oder heimische Meeresgebiete waren für sie fremd geworden, da sich dort so viele Menschen tummelten.

 

Die Sonne war nun hinter den Bäumen untergegangen. Das letzte Licht ließ noch kurz die Baumkronen glühen — dann verschwand auch das. Schatten senkte sich nieder, das Gras erkaltete, der letzte Windstoß verebbte und der letzte Vogel verstummte. Dann ertönte der erste Ruf der Nachtigall. Und Laura spürte eine warme Hand auf der Schulter, Milan war gekommen. Zum ersten Mal seit Monaten sah er sich den Sonnenuntergang mit seiner Schwester an. Laura umarmte ihn. Sie war zu einem Schluss gekommen.

 

„Heimat - ist Liebe!“, sagte sie staunend über ihren Geistesblitz.

 

„Ja“, erwiderte Milan leise, „Heimat ist Liebe.“

 

Und so standen sie noch lange da, Milans Arm auf der Schulter seiner Schwester, Lauras Arm um die Taille ihres Bruders geschlungen, weil sie höher gelegene Körperteile von ihm nicht erreichen konnte. So lange standen sie da, dass sich der warme, dunkle Ton zu einer leisen, leichten Melodie der hellen Dunkelheit gewandelt hatte, so lange, dass sie die Sterne zählen konnten, als sie zurückgingen.