Gewinnertext 2 - Erwachsene

"„Während der Hinfahrt sagte ich zu meiner Freundin: 30 Jahre ist es her, selbst die heute 40-Jährigen, beim Mauerfall 1989 waren sie 10, erinnerten sich kaum noch an die Verhältnisse in der DDR.“

„Ich kann mich sehr genau erinnern!“, sagt er sichtbar erregt. „22, ich war 22 und wollte frei sein, reisen können. Als man mir sagte, stellte ich einen 4. Ausreiseantrag, ginge ich ins Gefängnis, also stellte ich ihn ..."

Wie Phönix aus der Asche

von: Siegrid Rogalla

 

Uns hilft kein Gott, diese Welt zu erhalten“, Karat.

Selbst, das Programm steht, machen müssen wir es selbst.

Und nun das Köfferchen gepackt.

„Das war ihr Hitzi-Titzi-Tini-Wini-Honoloulou-Strandbikini“,

Kofferpacken ohne Bikini! Aber wie schreibt sich die Stadt?

Duden: „Homeros“, „Honolulu (Hauptstadt von Hawaii)“, ganz einfach.

Und wieso liegt an dieser Stelle ein Exemplar der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zwischen den Seiten?

„Hosianna“

Was sonst?

Kofferpacken ohne Bikini. Aber mir läuft die Zeit davon! Wird Zeit für Kerosin-Alternativen!

Und ich will im Bikini-Atoll baden!

"Silvester wird das nichts", sagte Milwa und: "Der Osten ist auch sehr schön."

Weimar, Milwa und Dirgis kommen!

 

 

 

Gepackt ist der Koffer.

 

Mittag …

Kurz mal an den Laptop …

Oh, nee! 17:11, eh ich so zum Herunterfahren komme … 17:46.

„Du musst zwischen den Zeilen lesen“, ein Glückskekszettelchen, schiebe den Rat schon seit einigen Tagen vor mir her. Ich kann mich nicht daran gewöhnen. Aber ich kann’s: Zwischen den Zeilen findet sich der Sinn. Zwischen den Zeilen lesen, das Schreiben nun lassen?

Dann kurz, wie Bodo, unser St. Petersburg-Reiseführer angesichts der Militärparade sagte: „Alles wegen euch. Konversion.“

 

Alles muss auf den Prüfstand … Konversion!

 

Und Goethe in der Campagna, Goethe ist mit in der Kampagne:

Jahreswechsel 2019/2020 in Weimar mit Goethe, Bauhaus und - keine Sorge: Milwa!

 

Weimar, die Wiege der Weimarer Klassik und der deutschen Demokratie.

 

War das eine wunderbare Reise: Geschlafen bei Leonardo, im Hotel Leonardo, und dann Goethe: Die Treppe hochschweben hatten seine Gäste sollen. Noch heute ist es möglich, Herder, Schiller, Wieland, Anna-Amalia, die restaurierte Bibliothek, das Bauhaus, die deutsche Demokratie der Weimarer Republik: Eine parlamentarische Demokratie! Wir hatten sie bereits. Aber, das hatte nicht allen gefallen und hereingefallen auf leere Versprechungen, die Wähler. Zum Reichskanzler ernannte Hindenburg den Festungshäftling: Die Katastrophe begann!

Aber zurück ins Heute, Weimar heute, freundliche zufriedene Menschen.

30 Jahre nach der Wiedervereinigung: So super hatten wir uns die Auswirkungen des Soli nicht vorgestellt, alles ist wohlbestellt.

Rückfahrt von Weimar via Gießen am 02.01.2020:

„Entschuldigung, ist der Platz noch frei?“

Kaum gefragt: „Aber ja, sofort!“, sitze ich, während weiter vorn gemosert wird.

„Ich versteh‘ die Leute nicht, es hat doch jeder bezahlt.“

„Wenn Sie Ihren Koffer auf die Seite legen“, empfehle ich der Dame vor uns, „können Sie ihn unter den Sitz schieben.“

„Der soll nicht schmutzig werden“, verstärkt der junge Mann seine Verwunderung mit einem Himmelblick.

„Ich versteh die Leute nicht! Haben Sie von den Silvester-Unruhen in Leipzig gehört?“

„Nein, wir waren in Weimar unterwegs, von der Brandkatastrophe im Affenhaus des Krefelder Zoos hörten wir.“

„Grauenhaft.“

„Grauenhaft!  Ja!“ – 

„Weimar? Goethe und Schiller vor dem Nationaltheater!“

„Ja, und die Kinder laufen zu ihren Füßen Schlittschuh.“

„Ach nee!?“

„Ja, eine Eisbahn wurde gebaut, auch gesponsert durch die Sparkasse.“

„Ich muss mal wieder hin.“ –

„Unruhen in Leipzig. Ich versteh‘ die Leute nicht“, sagt er zum dritten Mal.

„Während der Hinfahrt sagte ich zu meiner Freundin: 30 Jahre ist es her, selbst die heute 40-Jährigen, beim Mauerfall 1989 waren sie 10, erinnerten sich kaum noch an die Verhältnisse in der DDR.“

„Ich kann mich sehr genau erinnern!“, sagt er sichtbar erregt. „22, ich war 22 und wollte frei sein, reisen können. Als man mir sagte, stellte ich einen 4. Ausreiseantrag, ginge ich ins Gefängnis, also stellte ich ihn. Parallel dazu sagte ich Freunden und Vorgesetzten, die sehr zufrieden mit mir waren, müsse ich ins Gefängnis, brächte ich mich um. Frei wollte ich sein, ich verstand es nicht, dass man mich einsperrte, mit welchem Recht sperrte man mich ein! Mit dem Gesicht standen wir an der Mauer!“ Ein 4. Antrag auf Ausreise, erzählt er, wurde schließlich genehmigt: Innerhalb eines Tages musste er die DDR verlassen! Eltern, Heimat!

„Dann haben sie die informelle Organisation mobilisiert und Sie sind freigekauft worden, über Schalck-Golodkowski wurde es geregelt, die DDR brauchte Geld.“ „Allerdings. Schalck-Golodkowski? Möglich.“

„‚Willy Brandt ans Fenster', wieso steht denn das hier im Bahnhof?“

„Erfurt, hier stand er mit Stoph am Fenster, sonst hätten wir es nicht geschafft!“

„So ist es. Aber was meinen Sie, was in der Bundesrepublik los war! Anerkennung der Oder-Neiße-Line, Wandel durch Annäherung: Verrat! … 1985, das war noch vor dem Mauerfall! Und Sie waren entwurzelt. Und Ihre Eltern?“

„Da flossen Tränen“ bekräftigt er, indem er seine gespreizten Finger, Daumen und Zeigefinger, langsam über sein, nun extrem trauriges Gesicht nach unten führt.  – „Sie müssen Ihre Geschichte aufschreiben, wer weiß noch davon!“

„Nein.“

„Aber Sie haben es erlebt, es ist authentisch, ihre Geschichte ist wertvoll.“

„Nein, das sollen andere machen.“

An den Bodensee ging er, sollte zur Bundeswehr gezogen werden, da zog es ihn nach Berlin. Hilfe gab es durch die Agentur für Arbeit und Hartz IV und dann reiste er.

Fliege nun mit ihm per Hubschrauber über den Kilauea.

„Hawaii, dann waren Sie auf Hawaii! Das ist ja eine Super-Aufnahme mit dem Hubschrauberschatten und der Glut, da ist Glut im Vulkan: die Erde lebt.“

„Und wie! Und hier, gucken Sie mal.“

„Sind Sie das?“

Im Video schwimmt jemand unter Wasser.

„Sie sind ja gut!!“

Nun taucht er, sie auf, eine Schildkröte! Hawaii, San Franzisco, als Erstes ging’s nach Miami, dort lag er mit Indianern trunken am Strand … trunken und konnte nicht aufhören. Alkohol, Drogen … Sozialprogramme gebe es auch in den USA, aber nicht für Indianer, sagt er.

„Kurz vorm Exitus war dann Schluss. Ich versteh‘ das nicht, wieso konnte ich nicht aufhören?“

„Da gibt es Rezeptoren im Gehirn. Und das Schamgefühl: Lallen, Torkeln? Stopp. Aber ich denke, der Widerstand war prägend, dann ihre Mentalität: Sie kämpften, da gab es kein Halten, bis Sie es geschafft hatten, es war auch Euphorie und der Nachhall.“

„So, so hab‘ ich das noch gar nicht gesehn‘.“

„Sie sind ein Widerständler.“

Sehr zufrieden ist er, in Glauchau hatte er Kontakt zu einer Bekannten aufnehmen können, konnte dadurch in seiner Heimat wieder Fuß fassen und ist nun stolzer VW-Mitarbeiter in Mosel, Sachsen.

„Heute spreche ich gern mit Leuten, wer’s nicht will, soll‘ bleiben lassen, aber früher: nicht rechts, nicht links geguckt, Kopf runter, nur geradeaus.“

„Ich denke, es ist eine gute Idee, sich zu unterhalten und es ist gesund.“

„Absolut!“

„Da kommt Freude auf, Freude statt Antidepressiva. Ich war für ein paar Jahre nach Hamburg geflüchtet, lebte unter Hartz IV“

„Sie!?“

„Ja, ohne Hartz IV, sonst hätte ich das, was ich mir in der Bonner Republik erarbeitet hatte, aufs Spiel gesetzt. Gesetze. Durch die Arbeitsagentur bekam ich einen Job beim Sicherheitsdienst: Mindestlohn, aber täglich Museum, in der U-Bahn sprach ich mit Leuten, bewunderte hier ein Tuch, dort eine Brille.“

„Ja?“

„Die Leute freuten sich, aber nicht lang ist es her, da hätte man die Leute im weißen Kittel gerufen, wenn Sie ‚guten Tag‘ gesagt hätten.“

„Ach, ne!“

„Nein, aber beinahe.“

„Heute unterhalte ich mich gern, aber alles können Sie nicht sagen.“

„Doch, Sie können alles sagen, beleuchten, diskutieren.“

„Die Linken, das sind Wendehälse …“

„Aber als Nachfolger sehen sie sich nicht.“

Jetzt prustet er, als wollten x Argumente auf einmal heraus. Das Thema erörtern wir nun nicht.

„Sie können alles sagen und vor allem diskutieren, um zu einem Ergebnis zu kommen. Denken Sie an Helmut Schmidt, er griff jedes Thema auf.“

„Ja, Helmut Schmidt, das war ein Staatsmann.“

„Er erkannte die Spielregeln.“

„Ich weiß nicht, warum, heute unterhalte ich mich gern. Aber so wie mit Ihnen, das ist allerdings selten.“

„Sie sind durch, das ist der Grund.“

„Durch? Da sagen Sie was.“

Auch hier finde ich das sprichwörtliche Haar, frage danach … Als Antwort spreizt er Daumen und Zeigefinger, verdoppelt nun die Distanz.

„Und damit machen Sie nun weiter?“

„Ne! Damit will ich nichts mehr zu tun haben!“ 

„Göttingen, gleich müssen wir aussteigen.“

„Ja, vielleicht sehen wir uns mal wieder“, sagt Frank, der jung gebliebene 53er.

„Ja, vielleicht. Alles Gute!“

 

Liebe, nenn es Solidarität: Angenommensein und angekommen nun, statt Unzufriedenheit und  Drogen. Frank, ich nenne ihn Frank Phönix, „Auferstanden aus Ruinen und der Freiheit zugewandt“, standen sie mit dem Gesicht an der Wand: Freiheit!

Hannover – Lüneburg: Weggedanken:

„Wir haben im Westen das Glück gehabt, schon länger in einer Demokratie zu leben, die sich nicht zuletzt in der Offenheit gegenüber ihrer Geschichte bewährt“, hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker einmal gesagt.

Das Glück, das die Menschen im Osten auch hätten haben können.

Geteilt wurde Deutschland und geteilt wurde die Welt.

Letztendlich befreite die Sowjetunion sich und eigentlich die Welt von der Ideologie.

Eine Entschuldigung für den Freiheitsentzug durch das DDR-Regime kann es nicht geben, aber Worte des Bedauerns wären heilsam .

Gegen das Risiko, abgewählt zu werden, war es dann harte Arbeit für die SPD bis zur Wiedervereinigung: Verträge mit Warschau, Moskau: Welch ein Aufschrei und Risiko, das nicht jede Partei auf sich nahm. In der Sozialistischen Internationalen dann begegnete Willy Brandt Michail Gorbatschow: Wiedervereinigung! Aber, dafür musste die SPD gewählt werden und Geschichte muss geKan(n)t werden.

„Nun wächst zusammen, was zusammen gehört.“ Willy Brandt

Allmählich - aber darauf hatte keiner gehört, schnell sollte es wieder gehen.

Hinzu kam der paradoxe Lafontaine-Effekt, die Folge: CDU.

Ohne die Politik der Annäherung und des Wandels von Willy Brandt und Egon Bahr,

ohne Michail Gorbatschow, die Selbstbefreiung der UdSSR, ohne die Solidarnosc, die Katholische Kirche, ohne die evangelische Kirche in der DDR und last but not least: Ohne Günter Schabowski, der sich naiv stellte: „Das tritt? Nach meiner Kenntnis ist das sofort … unverzüglich.“ - hätten die vielen „Wir sind das Volk!“ und wir die gewaltfreie Revolution zur Wiedervereinigung und Befreiung der Menschen durch das Ende der DDR nicht erhalten.

Die SPD, die Partei, die überhaupt die Wiedervereinigung anbahnte, blieb auf der Strecke.

Willy Brandt, ein Unbekannter? Nun fehlt die Mitte.

Glücklich, zum Teil glücklich und dann das schnelle Glück der Wiedervereinigung! Und?

Restaurationsphase: Aufarbeitung im Westen, dann im Osten …

RestAUration … Und Heilung von der Krankheit Krieg, es gibt War-Games.

Ideale on! 

Demokratie und Freiheit.

Darum ging es, die wollen: Wir.  

Oder? Und hinter der Oder geht Europa weiter: Mir – das heißt Frieden.

Die Groko schrieb es in ihren Vertrag: Lissabon – Wladiwostok!

 

Die Menschen wollen FriEden!  

 

Lüneburg:

„Dann bis morgen“, sagt Milwa schließlich. „Bis morgen: Schwanensee!“

 

Schwanensee

„Das Russische Nationalballett aus Moskau präsentiert: Schwanensee

Der beliebteste Ballettklassiker aller Zeiten in einer atemberaubenden Darbietung“:

Begleitet von Zwischenapplaus, der freundlich-freudig entgegengenommen wird, erleben wir die hohe Kunst des Tanzes und die Musik Tschaikowskis.

Und das in Lüneburg, in einer zur Geistesschmiede umgewandelten ehemaligen Kaserne, im Libeskind-Hotspot der Leuphana Universität.

Nicht Odette, auch nicht Siegfried stirbt, das Leben siegt.

 

Und nun noch mal für Frank Phönix:

DJ Bobo: „Freedom!" - Udo Lindenberg: „Sonderzug nach Pankow“ und die Scorpions: „Wind of Change“.