Gewinnertext 2 - Schulen

"Das Mädchen war sich beinahe vollkommen sicher, dass sie es nie geschafft hätten. Dass sie dem Unglück geradewegs in die Arme gelaufen wären. Dass der Klimawandel sie gnadenlos überrollt hätte. Jetzt jedoch wurde ihnen allmählich klar, dass das, was sie viele Monate als Krise, Katastrophe, Kollaps begriffen hatten, ihnen eine Chance schenkte."

Wie die Krise eine Gesellschaft dazu brachte, sich vor der Katastrophe zu ängstigen

von: Siri Ratjen, 16 Jahre

 

Gerade waren die ersten Knospen an den Bäumen aufgegangen. Schüchtern wagten sie sich ins Sonnenlicht mit ihren grünen Blättlein, ach, so grün waren sie. In der Straße der Hoffnung bildeten die Bäume eine Allee.

 

Durch die fuhr das Mädchen gerade, schaute hinauf, wo die Äste den Himmel in viele tausend Stücke zerteilten. Der Himmel, blau wie die unzähligen Vergissmeinnicht, die bald erblühen würden und zerstückelt, wie all das, an dem sie sich einst festgeklammert hatten.

 

*

 

Das Mädchen war eine Rebellin gewesen. Hatte unermüdlich für ihr eines, ihr größtes Anliegen gekämpft. Sie wollte nur in Ruhe und Frieden leben können. Musste etwas verändern, solange es noch etwas zu verändern gab. Die Klimaangst war ihr ständiger, unangenehmer Begleiter geworden. Und deshalb hatte sie begonnen zu kämpfen. Gegen Ignoranz, Unverständnis und Verschlossenheit. Hatte allen versucht klarzumachen, dass ihr Anliegen auch das der anderen sein musste. Sie hatte sich immer unverstanden gefühlt. War ins Bett gegangen, in sich die Hoffnungslosigkeit wabernd wie viel zu dichter Nebel. Hatte sich gefragt, weshalb ausgerechnet sie die Dringlichkeit für die Veränderung begriff. Manchmal und immer häufiger hatte sie sich danach gesehnt, ihr Verständnis ablegen und eine Gleichgültigkeit entwickeln zu können. Sie hatte sich gefragt, ob all die anderen es sogar verstanden und nur alles in die hinterste Ecke ihrer Köpfe schoben, in der Hoffnung, alles auf diese Weise möglichst schnell zu vergessen.

 

Nun schien die Wirklichkeit und mit ihr die Dringlichkeit sich auch ins Zentrum der Gedanken all der anderen geschlichen zu haben. Irgendwann im Laufe des vergangenen Jahres, irgendwann zwischen Wirtschaftszusammenbruch und immens steigender Todeszahlen hatten sie endlich begriffen, dass sie nicht unerreichbar sind. Dass auch sie von einer Krise angegriffen werden können. Und dass es nichts an der Wirtschaft mehr zu verteidigen, zu schützen gab, hatte die Einsicht gewiss weiter unterstützt. Das Mädchen bezweifelte, dass die anderen ohne diese fehlende Sicherheit ihr altes Leben jemals aufgegeben hätten. Doch egal auf welche Weise – in der Gesellschaft war ein Bewusstsein für ihre Erreichbarkeit von Krisen entstanden. Und sie hatten verstanden, dass es Veränderung brauchte, um den gierigen Armen der Klimakatastrophe zu entfliehen.

 

Jeder von ihnen hatte erwartet, dass jetzt alles eingehen würde, trostlos würde. Doch wo es grau war und wo sich das Grau noch hätte ausbreiten sollen, würde es grün werden, würde es bunt werden.

 

Und dort, wo die Köpfe jener Gesellschaft, von der wir uns einen Teil nennen, einst gefüllt waren von Hektik und dem ständigen unterbewussten Verlangen nach Ausweitung und Größe, da gab es jetzt eine Stille, eine Ruhe. Sie hatten ihre Hektik hinter sich gelassen, hatten sie abgelegt, wie die Schlange ihre Haut. Irgendwo, da war sie noch die Hektik, lauernd. Doch fürs Erste musste auch die sich zur Ruhe legen und bleiben, wo sie war. Denn die Krise ließ sie innehalten, ließ sie sich an ihre eigene Vergänglichkeit erinnern und die Augenblicke, die früher so unglaublich schnell zu verstreichen schienen, bewusst leben.

 

*

 

Nun also fuhr das Mädchen auf ihrem Fahrrad, fuhr Slalom, einfach, weil es so Spaß machte. Und Autos fuhren ohnehin seltener. Die Straße führte sie in die Dorfmitte. Ein Platz gesäumt von Sechzigerjahre-Bauten. In der Mitte ein Springbrunnen, aus dem schon lange kein Wasser mehr floss. Trotzdem saßen auf den Bänken zwei Mütter mit ihren Kindern. Sie reckten ihre Gesichter der Sonne entgegen, während die Kinder um die Bänke herumtollten. Früher, da saß da niemand. Früher, da waren die Leute auf ihrem Weg vom Supermarkt zur Sparkasse einfach daran vorbeigehastet. Da hatten sie die Bänke nicht einmal bemerkt. 

 

Sie fuhr also noch ein wenig weiter, am Straßenrand war ein Stand aufgebaut. Das rot-weiß-gestreifte Tischtuch flatterte fröhlich im Wind. Über den Tisch wurden Äpfel und Kartoffeln gereicht, Gläser mit Honig von den Bienen des Imkers, der am anderen Ende des Dorfes wohnte, dort wo die Wiesen zu Wald werden. Ein Mann im Anzug stand da, wartend, seinen Stoffbeutel in der Hand, damit die Verkäuferin sein Brot hineinplumpsen lassen konnte, frohgemut jedem, der vorbeikam, einen schönen Tag wünschend. Früher, da war er um diese Zeit immer im Büro, hatte auf eine Tastatur eingehämmert und enorm wichtige Gespräche mit überaus wichtigen Leuten geführt, hatte sich mit irgendjemandem gestritten und war anschließend zu einem nächsten Termin gehetzt. Früher, da kaufte er sein Brot immer in Plastik verpackt.

 

Weiter auf der Straße durch das Dorf. Als vor ihr eine Familie mit Kinderwagen auf der Straße auftauchte, war sie versucht zu klingeln. Wollte sich nicht aufhalten lassen, musste schließlich ankommen. Doch dann fiel ihr ein, dass sie Zeit hatte, viel Zeit und die Kinder lachten so fröhlich und fuhren mit ihren Fahrrädern in großen Kreisen um die Eltern herum. Irgendwann bemerkte die Familie sie und sie rückten ein Stück zur Seite, damit sie mit ihrem Fahrrad vorbeifahren konnte. Und sie rief ein Dankeschön in den Wind.

 

Die Schaufenster, in denen noch vor kurzem die Bekleidungskette ihre neusten Kollektionen vorgestellt hatte, waren nun leer, die Fenster schienen beinahe traurig auf den Gehweg zu blicken. Doch sie hatte gehört, dass sich eine Wohlfahrtsorganisation darum bemühte, hier schon bald einen Second-Hand-Laden aufmachen zu können.

 

Sie waren einfach alle so viel genügsamer geworden. Konnten auch die winzigsten Dinge mit großer Freude betrachten, denen sie sonst nur ein kleines Lächeln geschenkt hatten.

 

Früher, da planten sie den nächsten Urlaub, fragten sich, wann sie sich denn nun ein noch etwas schnelleres Auto kaufen konnten.

 

Nun träumten sie von einem Garten, in dem sich die Blütenköpfe im Wind wiegten, wie ein unendliches Meer. So voller Kraft und doch beruhigend schön.

 

Sie träumten davon, das Fenster zu öffnen und die vom Wind herübergetragenen Töne eines klimpernden Klavieres zu vernehmen.

 

Sie träumten davon, sich abends, kurz bevor die Sonne untergehen würde, mit ihren Familien zu treffen.

 

Träumten davon, Tage zu leben, an denen sie sich glücklich und mit einem Herzen voller Zuversicht Schlafen legen können.

 

*

 

Das Mädchen war sich beinahe vollkommen sicher, dass sie es nie geschafft hätten. Dass sie dem Unglück geradewegs in die Arme gelaufen wären. Dass der Klimawandel sie gnadenlos überrollt hätte. Jetzt jedoch wurde ihnen allmählich klar, dass das, was sie viele Monate als Krise, Katastrophe, Kollaps begriffen hatten, ihnen eine Chance schenkte. Die mühselige Entscheidung war ihnen erleichtert, der Weg zu einer neuen, längeren Existenz geebnet worden. Man könnte nun meinen, es hätte alles zur Perfektion geführt oder würde dorthin führen, doch das hatte es nicht und es würde noch lange Zeit dauern, bis alle Schäden behoben, alle Wunden geheilt sein würden: Die dritte Infektionswelle hatte viele Tote gefordert, hatte Millionen arbeitslos gemacht.

 

Doch an diesem Tag lag dieser Duft von Erwachen in der Luft. Es war der Duft, der einem Hoffnung macht, der die dunklen Gedanken für einen Moment nichtig erscheinen lässt.

 

Denn an diesem Tag war nach einem langen Winter endlich der Frühling gekommen.